Von Jeff Bezos lernen
Einer der berühmtesten Aussprüche, mit denen der 2015 verstorbene frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt in den Medien gerne zitiert wird, lautet: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“. Zu Beginn der 1980er-Jahre war dies seine Antwort auf eine Frage eines Interviewers nach seiner großen Vision. Etliche Jahre später wurde er vom ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo auf das Interview angesprochen und räumte ein: „Es war eine pampige Antwort auf eine dusselige Frage.“
Ich bin mir sicher, dass auch Helmut Schmidt sich dessen bewusst war, dass keine Gesellschaft, die sich weiterentwickeln will, ohne Visionäre auskommt. Denn Visionäre sind in der Lage, mit ihren Ideen ganze Gesellschaftsordnungen zu verändern, uns Menschen alternative Wege aufzuzeigen, unser Leben zu vereinfachen und aus Träumen Wirklichkeit werden zu lassen.
Auch an der Börse profitieren wir von solchen Visionären – etwa den Gründern bekannter Weltkonzerne wie Amazon, Facebook, Tesla oder Nvidia. Denn sie helfen uns Anlegern dabei, unser Vermögen zu sichern und zu vergrößern, indem wir uns an ihren Unternehmungen beteiligen.
Einen dieser Macher möchte ich Ihnen heute etwas näher vorstellen. Denn die Geschichten hinter der Person sagen oftmals sehr viel aus über die Art und Weise, wie diese Menschen (und ihre Unternehmen) ticken. Den Anfang macht heute „Mr. Amazon“ Jeff Bezos.
So fing alles an
Wir schreiben das Jahr 1995 und eine Website namens Amazon.com geht an den Start. Ein Jahr zuvor hatte ein gewisser Jeff Bezos – zu diesem Zeitpunkt an der Wall Street als Vize-Präsident beim Hedgefonds D.E. Shaw & Co. beschäftigt – die Idee, einen Online-Versandhandel für Bücher zu gründen.
Denn zwei Dinge waren Jeff Bezos aufgefallen: die rasante Wachstumskurve des Internets und die Möglichkeit, über diesen Vertriebsweg ein Sortiment und einen Service anbieten zu können, bei dem kein stationärer Händler jemals mithalten kann.
Genau deswegen entschied er sich auch für das Produkt „Buch“ als Basis für seinen Online-Handel. Denn davon gab es zu dem Zeitpunkt über drei Millionen verschiedene Artikel – mehr als in jeder anderen Produktkategorie. Und selbst die größte US-Buchhandelskette Barnes & Noble verfügte damals über ein Sortiment von ca. 150.000 Büchern. Der Grundstein für das Geschäftsmodell von Amazon war gelegt und Jeff und seine Frau kündigten ihre Jobs und machten sich mit dem Auto von New York aus auf den Weg nach Kalifornien. MacKenzie saß am Steuer, während Jeff auf dem Beifahrersitz den Businessplan für sein Unternehmen schrieb.
Eine Garage in Seattle
Über die Gründung des Unternehmens Amazon findet man etliche Geschichten und Legenden. Die auf einer Serviette festgehaltene Skizze des Geschäftsmodells ist eine davon.
Dass die ersten Bestellungen auf Amazon.com aus einer Garage in Seattle abgewickelt wurden, ist allerdings kein Mythos. In den Anfängen war Amazon nämlich ein echtes Familienunternehmen. Jeff kniete auf dem Garagenboden, packte die Pakete und brachte sie zur Post, während MacKenzie, die eigentlich Schriftstellerin war, kurzerhand die Buchhaltung übernommen hatte.
Den Namen seines Unternehmens leitete Bezos vom Amazonas ab, dem längsten Fluss der Welt, um damit die große Auswahl zu symbolisieren. Und auch der Firmenstandort Seattle war eine bewusste Wahl, denn dort war auch Microsoft angesiedelt. Bezos erhoffte sich dadurch den Zugang zu gut ausgebildeten IT-Experten. Auch in solchen Entscheidungen zeigt sich, dass Jeff Bezos ein Visionär ist, der groß denkt und sicherlich nicht vorhatte, dauerhaft ein Unternehmen aus der Garage heraus zu betreiben.
Der Kunde kommt zuerst
Was das Unternehmen Amazon bis heute von vielen anderen Anbietern unterscheidet, ist die absolute Kundenzentriertheit. Wer ein Kundenkonto bei Amazon hat (und vermutlich sind das die meisten von uns), der weiß, wovon ich rede.
Während viele andere Firmen oft zu sehr den Blick danach richten, was die Konkurrenz gerade treibt, dreht sich bei Amazon immer alles nur um den Kunden. Und diese Sichtweise hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass Amazon zwei Jahre nach seiner Gründung den Online-Angriff seines Mitbewerbers Barnes & Noble, der nun ebenfalls mit einem Online-Shop an den Start ging, überstand. Den 30.000 Mitarbeitern des alteingesessenen Buchhändlers hatte Amazon zu dem Zeitpunkt gerade einmal 125 Beschäftigte entgegenzusetzen.
Vermutlich stammt auch dieser Zeit auch folgendes Zitat von Jeff Bezos, in dem er die Einzigartigkeit seines Unternehmens auf drei Punkte runterbricht: „Hinter Amazon stecken drei große Ideen, die der Grund für unseren Erfolg sind: Kundenzentriertheit, Erfindergeist und Geduld.“
Ende der 1990er Jahre kommt Amazon auch nach Deutschland: Die deutsche Website geht online, die ersten Büros entstehen in Süddeutschland, ein Logistikzentrum in Bad Hersfeld entsteht und im Jahr 2001 wird die deutsche Firmenzentrale in München eröffnet. Nach und nach kommen neue Verkaufssparten wie DVD, Video, Musik und Elektronik hinzu.
Warum gerade diese Produktgruppen? Auch hier spielt die Kundenorientierung wieder eine Rolle. Denn Jeff Bezos hat seine Kunden damals einfach danach gefragt, welche Artikel sie gerne bei Amazon ordern würden. Und die Kunden haben brav geantwortet und ihm gemailt, wonach sie gerade im Netz suchten. Das war der Moment, in dem Bezos erkannte, dass er über seine Seite eigentlich so ziemlich alles anbieten kann. Seitdem gilt die Devise: Kunden sollen auf Amazon alles finden, was sie online kaufen können. Als Symbol dafür steht seit dem Jahr 2000 das berühmte Amazon-Logo mit dem Lächeln – von A bis Z.
Immer mehr Services
In den folgenden Jahren baute Amazon das Sortiment immer weiter aus und verwirklichte mit Amazon Prime erneut eine Vision von Jeff Bezos – nämlich jene, eine schnelle Lieferung zum Standard zu machen.
Auch hier diente ihm ein traditionelles Geschäftsmodell als Ideengeber – und zwar das in den USA überaus beliebte „All you can eat“-Buffet. Bezos brauchte damals einiges an Überzeugungskraft, um seinem Team vorzurechnen, dass es sich lohnt, dem Kunden die Versandkosten zu schenken und ihn, wie beim Buffet, nur eine Pauschale zahlen zu lassen, mit der er immer wieder „zuschlagen“ darf.
Schließlich überzeugte er sie – und der Erfolg gab ihm Recht. Und auch mit Amazon Prime bleibt das Unternehmen seinem Motto treu: Alles beginnt beim Kunden!
Doch Amazon Prime ist längst nicht der einzige innovative Service, der nach der Jahrtausendwende von dem visionären Konzern aus Seattle entwickelt wurde. Begriffe wie Marketplace, Kindle, Prime Video, Echo, Originals, Cyber Monday oder Amazon Pay stehen für Amazon-Dienste, die inzwischen in vielen Ländern der Welt fester Bestandteil der Alltagskultur sind.
Diese allmächtige Markstellung des Unternehmens wird von Medien und Politik bekanntermaßen durchaus kritisch gesehen. Aus Kundensicht jedoch stellt sie eine unfassbare Erleichterung des Alltags dar.
Zeit für einen Wechsel
Zu Beginn des Jahres 2021 kam erneut ein Paukenschlag aus Seattle – nämlich die Nachricht, dass Bezos sich in diesem Sommer aus dem Tagesgeschäft zurückzieht und an die Spitze des Verwaltungsrats von Amazon wechselt. In einem Brief an seine Mitarbeiter begründete er die Entscheidung damit, dass das Unternehmen Amazon sich in einer „erfinderischen Phase“ befinde und es somit ein idealer Zeitpunkt für diesen Wechsel sei. Ich bin mir sicher, dass Amazon uns auch in den kommenden Jahren noch viele Innovationen bescheren wird und dass der Visionär Jeff Bezos bei wichtigen Unternehmensentscheidungen weiterhin mitmischen wird.
Künftig will Bezos, inzwischen mit einem Vermögen von rund 196,7 Milliarden US-Dollar einer der reichsten Menschen der Welt, sich intensiver seinen zahlreichen anderen Projekten widmen. Allen voran seinem Raumfahrtunternehmen Blue Origin, welches er in Interviews stets als sein bedeutendstes unternehmerisches Projekt bezeichnet.
Aus seinem letzten Aktionärsbrief als Amazon-CEO, der vor wenigen Wochen veröffentlicht wurde, lassen sich beeindruckende Zahlen ablesen. Inzwischen beschäftigt Amazon 1,3 Millionen Menschen auf der ganzen Welt. Weltweit werden mehr als 200 Millionen Mitglieder von Amazon Prime gezählt. Und der Aktienkurs von Amazon ist seit dem Börsengang im Jahr 1997 um mehr als 194.000 % gestiegen.
Auch aus der Corona-Krise geht Amazon als Gewinner hervor, wie uns die Ende April verkündeten Quartalszahlen für das erste Quartal 2021 zeigen. Der US-Konzern erwirtschaftete einen Nettoumsatz von 108,5 Milliarden US-Dollar, was einem Anstieg um 44 Prozent im Vergleich zum ersten Quartal 2020 entspricht. Den Gewinn erhöhte Amazon um mehr als das Dreifache auf den Rekordwert von 8,1 Milliarden Dollar. Zum vierten Mal in Folge übertraf Amazon damit die Prognosen deutlich.
Das Unternehmen blickt dementsprechend zuversichtlich in die Zukunft. Und diejenigen, die wie ich Amazon-Aktien in ihrem Depot haben, tun es selbstredend auch.